«Mir gefällt, dass Rune Feuer hat»

Am Australian Open ist der Schweizer Davis-Cup-Captain Severin Lüthi erstmals für den Weltranglisten-Achten Holger Rune verantwortlich. Ein Gespräch über Talente, Erwartungen und Coachingfehler.

Severin Lüthi ist in Melbourne ein begehrter Mann. Schweizer und dänische Journalisten stehen Schlange für einen Termin beim 48-jährigen Berner. Nach vielen Jahren an der Seite von Roger Federer hat er nun den Trainerjob beim 20-jährigen Holger Rune übernommen, dem viele eine grosse Karriere zutrauen. So ganz recht ist ihm der Rummel so früh in der neuen Rolle nicht, doch Keystone-SDA empfängt er vor Runes Zweitrundenpartie, die er am Donnerstag dann verliert, im Spielerrestaurant in der Rod Laver Arena zum Gespräch.

Severin Lüthi, wie ist es eigentlich zum Kontakt mit Rune gekommen?

«Den ersten Kontakt hatten wir 2019, als Rune mit Roger an den ATP Finals in London trainierte. Im letzten Herbst habe ich ihn dann wieder getroffen. In Basel habe ich ihm viel Glück mit Boris Becker gewünscht – ohne jegliche weiteren Gedanken. Im November hat mir dann Rune plötzlich geschrieben.»

Er selber, nicht sein Agent?

«Ja, und das ist mir auch noch wichtig. Das zeigt echtes Interesse und Eigeninitiative. Er hat aus den Ferien angerufen und eine Testwoche vorgeschlagen. Das finde ich immer eine gute Idee. Wir hatten schliesslich in Monaco eine super Woche mit Becker und ihm, da habe ich zugesagt.»

War das ein einfacher Entscheid?

«Ich wusste selber nicht genau, was ich will. Ich habe schon noch Respekt vor dieser Aufgabe, auch vor dem speziellen Leben mit dem vielen Reisen. Das Reisen hat mir in der Zeit seit dem Rücktritt von Roger nie gefehlt.»

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Eine Stunde mit Severin Lüthi ist ein echtes Erlebnis. John McEnroe nickt ihm zu, Stefanos Tsitsipas fragt auf dem Weg zu seinem Match, wie es geht, Lleyton Hewitt grüsst und Andrea Petkovic bleibt für einen kurzen Austausch stehen.

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Hatten Sie eigentlich noch andere Coaching-Angebote?

«Ein paar Anfragen gab es schon. Es war aber auch nicht klar, ob ich das überhaupt will.»

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Lüthi zeigt diskret auf eine Top-Ten-Spielerin, die gerade vorbei geht, und sagt, sie habe mal angefragt.

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Was hat Sie denn bei Rune überzeugt?

«Ein Grund, warum ich mir die Arbeit mit ihm vorstellen kann, ist, dass er Feuer hat. Er ist motiviert, hat hohe Ambitionen. Das ist etwas, das mir gefällt. Natürlich kann das auch dazu führen, dass man sich verkrampft, dass du zu viel willst. Es gibt keine Garantie, aber er ist die Nummer 8 der Welt, das ist nicht mehr nur Potenzial, das zeigt, dass er es auch umsetzen kann.»

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Manche Experten trauen dem 20-jährigen Rune zu, das Tennis dereinst mit dem gleichaltrigen Carlos Alcaraz und dem zwei Jahre älteren Jannik Sinner prägen zu können. In der zweiten Hälfte des letzten Jahres fiel er allerdings in ein tiefes Loch. Deshalb entschied er sich für den Trainerwechsel. Rune ist überzeugt von der Doppellösung mit Boris Becker und Lüthi. «Zu hundert Prozent», zeigte sich der temperamentvolle Däne in Melbourne zufrieden. Nach Australien gereist ist er mit Lüthi. «Ich mag die Energie, die er auf den Platz bringt», schwärmt er über den Schweizer.

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Sind Rune, Alcaraz und Sinner für Sie auch die nächsten Big 3?

«Für mich ist das zu weit vorausgedacht. Sie haben ihr Potenzial zum Teil schon bewiesen, aber du weisst nie, wie jemand in einer Krise oder bei grossem Erfolg reagiert. Klar, hätte ich auch gesagt, dieser Alcaraz wird mal was gewinnen, aber eine Garantie hast du nie. Schauen Sie mal, wie lange Murray gebraucht hat, bis er dann ein Grand-Slam-Turnier gewonnen hat. Eine Zeit lang hatte ich auch das Gefühl, Djokovic kann Nadal nicht schlagen, dann dass Nadal nicht mehr gegen Djokovic gewinnen kann, und alles hat wieder geändert. Es ist etwas langweilig, wenn ich das sage, aber du weisst nie wie sich einer entwickelt.»

Sie haben mit Roger Federer jahrelang den nahezu perfekten Spieler in Sachen Professionalität und Einstellung trainiert. Müssen Sie aufpassen, dass Sie andere nicht an zu hohen Ansprüchen messen?

«Das frage ich mich manchmal tatsächlich und versuche, das zu beobachten. Ich hatte diese Diskussion auch manchmal mit Swiss Tennis. Sie sagten, wir sind hier…»

Lüthi zeigt mit der Hand ein Level relativ weit unten an.

«…und du bist hier oben. Aber wenn man Ambitionen hat und da hin will, muss man halt machen, was es braucht.»

Worauf legen Sie als Coach besonders wert?

«Ich versuche, die Sachen grundsätzlich einfach zu halten. Da machen viele Coaches den Fehler, dass sie drei verschiedene Sachen sagen und der Spieler kann nicht mehr gewichten. Wenn die grossen Sachen stimmen, machen sie andere Sachen oft automatisch richtig. Die Einstellung, das Mentale, zieht vieles mit sich, auch taktisch und technisch.»

Wie geht es für Sie mit dem Davis Cup weiter?

«Ganz ehrlich, ich bin auch noch dabei, meine Rolle zu finden. Ich habe wie gesagt Respekt vor der Belastung, wieder so viel unterwegs zu sein. Im Moment sind viele Sachen auf dem Tisch bei mir. Ich habe den Davis Cup immer gerne gemacht, und ich habe für dieses Jahr wieder zugesagt. Jetzt konzentrieren wir uns mal auf die nächste Begegnung im Februar in den Niederlanden. Erst dann kennen wir ja auch das weitere Programm.»

Mit dem 38-jährigen Stan Wawrinka stand am Australian Open nur ein Schweizer im Hauptfeld. Machen Sie sich Sorgen um die Zukunft?

«Ich bin froh, dass es wieder eine etwas breitere Basis gibt. Du kannst immer mehr und es noch besser machen, aber grundsätzlich sind wir in einer stabileren Situation als vor ein paar Jahren. Mit Stricker in den Top 100, Hüsler, der hoffentlich wieder nach vorne kommt, Riedi, Ritschard, Bellier und Kym stehen wir nicht so schlecht da.»