Lager, Liebe und Leid: Internierte in der March
Soldatenkolonne: Grenzübertritt im Juni 1940 bei Goumois, heute Kanton Jura. Bild: Polenmuseum Rapperswil
Ausserschwyz
28. May 2025

Lager, Liebe und Leid: Internierte in der March

104 000

Stefan Paradowski*

Polenwege, Gedenksteine, Schnitzereien: Verschiedenes erinnert heute noch an die Internierung fremder Militärpersonen in der Schweiz während des Zweiten Weltkriegs – auch in der March. Gemäss Haager Abkommen von 1907 hat ein neutraler Staat das Recht, flüchtende Truppen kriegsführender Mächte aufzunehmen, unterzubringen, zu entwaffnen und daran zu hindern, während des Krieges wieder in den bewaffneten Kampf einzugreifen.

Insgesamt wurden zwischen 1939 und 1945 rund 104 000 Militärangehörige aus 38 Ländern für kürzere oder längere Zeit in der Schweiz interniert. Die Zahl der Internierten erreichte mit dem Grenzübertritt des 45.französischen Armeekorps, zu dem auch eine polnische Schützendivision gehörte, im Juni 1940 einen ersten Höhepunkt.

Internierte in 1200 Ortschaften in der Schweiz

Ab 1941 wurden die Internierten zu Arbeitseinsätzen verpflichtet und absolvierten diese in rund 1200 Ortschaften in der Schweiz, so auch in der March. Im April 1943 wurde in Tuggen ein Arbeitslager eröffnet, welches aber noch im gleichen Monat nach Reichenburg versetzt wurde. Es blieb bis Ende 1945 bestehen.

Im Barackenlager linkerhand der Strasse nach Benken, unmittelbar an der Kantonsgrenze zu St.Gallen, waren hauptsächlich polnische Internierte untergebracht. Die Internierten in Reichenburg arbeiteten ausschliesslich für das Pflanzwerk Linthebene der Schweizerischen Vereinigung für Innenkolonisation und industrielle Landwirtschaft SVIL.

Lagerorganisation und Lageralltag

In den polnischen Lagern sorgten nebst dem Schweizer Lagerkommandanten und den Bewachungstruppen aus der Schweizer Armee polnische Verbindungsoffiziere für einen ordentlichen Lagerbetrieb und gewährleisteten den Kontakt zwischen dem Lagerkommandanten und den Internierten. Die Atmosphäre in den Lagern stand und fiel mit den Kommandanten, wobei sich die Suche nach geeigneten Führungskräften für die zahlreichen Lager schwierig gestaltete. Manchmal mussten deshalb auch Unteroffiziere oder Soldaten die Führung eines Lagers übernehmen.

Auch in Reichenburg wurde wegen des Aktivdienstes des ständigen Lagerkommandanten ein vorübergehender Kommandant aus den Reihen der Bewachungstruppen eingesetzt, welcher sich «taktlos und brutal» verhielt. Der polnische Verbindungsoffizier beklagte im März 1945 in einem Bericht «eine Tendenz zu Schikanen» und prangerte an, dass sich der neue Lagerkommandant, ein Adjutant-Unteroffizier, «durch besondere Strenge und unfreundliche Haltung gegenüber den Polen» auszeichne. Die Wache sei auf zehn Mann verstärkt worden und der Kommandant betreibe «eine Polenhetze, derer sich die Gestapo nicht zu schämen brauchte».

«Weibergeschichten»

Ein Reichenburger Heerespolizist berichtete am 29. März 1945 an den Abschnittskommandanten: «Verschiedene Vorkommnisse zwischen polnischen Internierten des Lagers Reichenburg und der Zivilbevölkerung von Lachen lassen zur Zeit eine durchaus gespannte Lage unter Erwähnten erkennen. Ich stelle fest, dass dies be-sonders durch einen kürzlich erfolgten Fall bedingt ist, da eine Frau in beschämender Weise Beziehungen zu einem polnischen Internierten des Lagers Reichenburg gepflogen hat. Dieser Fall scheint die Gemüter der Zivilbevölkerung von Lachen zu erregen. Des Öfteren ist es mir gelungen, dieselben zu beruhigen und Schlägereien zu verhüten. Heute muss ich konstatieren, dass man in erwähnter Gemeinde entschlossen scheint, zum ‹Selbstrecht› zu greifen und tätliche ‹Rache› an den ‹Verführern› zu üben.» Aufgrund dieser Vorfälle zog der Abschnittskommandant die Konsequenzen und verfügte am 4.April 1945 für die Internierten des Lagers Reichenburg die Sperrung des Ausgangs nach Siebnen und Lachen. Er meldete die Geschehnisse von Lachen an das Eidgenössische Kommissariat für Internierung und Hospitalisierung EKIH und bemerkte, dass der geschilderte Fall nicht einzig dastehe: «Es passierten in Lachen und Siebnen viele derartige Weibergeschichten».

Heiraten verboten

Verschiedene Weisungen regelten das Verhältnis von Schweizerinnen und Schweizern sowie Internierten. Der Orange-Befehl («orange» bezog sich auf die Papierfarbe) vom 1.November 1941 schränkte die Bewegungsfreiheit der Internierten erheblich ein. Die grösste Konsequenz hatte sicherlich Art.IV mit dem Eheverbot. Die Folge davon waren ledige Mütter und ohne Väter aufwachsende Kinder. Mindestens 369 polnische Internierte wurden nämlich bis Ende Mai 1946 Väter unehelicher Kinder. Das Heiratsverbot entrüstete nicht nur die Internierten, sondern verletzte auch eine internationale Konvention, welche die Schweiz mitunterzeichnet hatte.

«Dirnenmässige Beziehungen»

Ein Rapport der Heerespolizei zum Internierungslager Reichenburg im März/April 1945 brachte pikante Einzelheiten über «dirnenmässige Beziehungen zu Internierten» ans Licht: Mikolaj Szostaczko und Berta (…) seien in einem Zimmer im Restaurant «Rütli» in Lachen «kontrolliert» worden. Sie stünden seit Herbst 1944 in einem «wilden» Liebesverhältnis zueinander.

Resümierend hält der Rapportierende fest: «Nach meinen gründlichen Erhebungen stelle ich fest, dass die (…) eine Dirne der schlimmsten Sorte ist. Ihr Name scheint in der March ein landläufiger Begriff zu sein (…). Ich konstatierte des Weiteren, dass sie wiederholt junge Mädchen mit polnischen Internierten in Verbindung zu bringen versucht hat (…). Es wäre wohl angezeigt, wenn man von zuständiger Stelle Mittel und Wege fände, um dem allseits ärgerniserregenden Handwerk dieser ‹Dame› ein Ende zu setzen.» Mikolaj Szostaczko wurde zur Rechenschaft gezogen und hart bestraft: Er verbrachte eine zweimonatige Strafe im berüchtigten Lager Wauwilermoos, östlich von Sursee im Kanton Luzern. Hier verbüssten unter dem rücksichtslosen Kommando von Hauptmann André Béguin internierte Soldaten ihre Strafen wegen Fluchtversuchen oder anderer Vergehen.

Von Anfang an ruinierten die skandalösen Zustände und die verbrecherischen Machenschaften des Lagerkommandanten den Ruf des Straflagers. André Béguin wurde 1945 verhaftet. Das Zürcher Divisionsgericht verurteilte ihn zu dreieinhalb Jahren Zuchthaus.

* Dr. Stefan Paradowski ist polnisch-schweizerischer Doppelbürger, Kunsthistoriker, in Benken aufgewachsen und in Lachen wohnhaft. Er führt die Agentur für Kunst und Regionalgeschichte und ist Vorstandsmitglied des Marchrings.

Durchhalten – die March im Zweiten Weltkrieg, eine achtteilige Serie über eine Zeit der Bedrohung und Entbehrung.

In Teil 8 geht es um die Unterbringung fremder Militärpersonen in der March – die sogenannten Internierten.

«In Reichenburg wurde vorübergehend ein Kommandant eingesetzt, welcher sich ‹taktlos› und ‹brutal› verhielt.»

Militärangehörige

aus 38 Ländern waren in der Schweiz interniert.

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