«Das alte Dorf verschwindet»
Wer an der Kantonsstrasse entlang durch Buttikon fährt, kann das riesige, langgezogene Gebäude nicht verfehlen. Das auffällige Gebäude zierte in der Vergangenheit schon oft Postkarten des Dorfs Buttikon – ja, die gab es tatsächlich einmal. Die sogenannte «Lederi» weicht nun einer Überbauung mit 73 Wohnungen. Der Rückbau hat bereits begonnen. (wir berichteten) Damit verschwindet ein Stück Geschichte. Denn die Fabrik brachte einst Arbeit und Wohlstand in das bäuerlich geprägte Dorf.
Das Armenhaus der Schweiz
Der Kanton Schwyz galt lange Zeit als das Armenhaus der Schweiz. Auch in Ausserschwyz waren die Menschen im 19. Jahrhundert bitterarm – gebeutelt von Naturkatastrophen und daraus resultierenden Hungersnöten. Arbeit war rar. Und wenn es sie gab, mussten meist auch Kinder mitanpacken. Die Gemeinden zahlten sogar Geld, wenn sich Bewohnerinnen und Bewohner dazu entschieden, ins Ausland auszuwandern, so schlecht war die Situation.
Im Jahr 1834 kam der Zürcher Unternehmer Caspar Honegger nach Ausserschwyz und brachte den ersten wirtschaftlichen Aufschwung. Er baute in Siebnen, Wangen und Nuolen verschiedene Fabriken, machte auch viel für die Infrastruktur. Der Bau einer Eisenbahnstrecke zwischen Zürich und Näfels (via Ziegelbrücke) im Jahr 1875 trug ebenfalls wesentlich zum Fortschritt in der Region bei. Firmen siedelten sich langsam an.
Buttikon hatte damals aber noch keine Bahnhaltestelle, wie der Buttikner Richard Ziltener weiss. Er ist ehemaliger Gemeindeschreiber von Schübelbach sowie Vize-Präsident des Marchring und er kennt die Geschichte des Dorfs schon ziemlich gut aus seiner Zeit als Gemeindeschreiber. Vom grossen Aufschwung profitierte das hauptsächlich von Landwirtschaft geprägte Dorf deshalb nur bedingt, wie Ziltener erzählt.
Fast 20 Betriebe entstanden
Das änderte sich. 1896 war Stickereiund Handelsunternehmen Rohner aus dem St. Gallischen Rebstein auf der Suche nach Erweiterungsmöglichkeiten und günstigeren Arbeitskräften. In Buttikon wurde die Firma fündig. Von 1896 bis 1900 entstand das langgezogene Fabrikgebäude in mehreren Etappen. Zur Blütezeit beschäftigte die Fabrik 220 Personen und viele Heimarbeiter. «Daraus entstand sogar eine ganze Industrie», sagt Ziltener. «Die Leute sahen, dass sie damit etwas verdienen können, und bauten ihre eigenen Kleinstickereien.» Beinahe 20 Betriebe entstanden so im Dorf und brachten Wohlstand. Auch in anderen Märchler Ortschaften entstanden danach Schifflistickereien – so etwa in Tuggen, Reichenburg und Schübelbach.
Doch als nach dem Ersten Weltkrieg die Textilkrise und die Wirtschaftskrise folgten, ging es auch mit den Schifflistickereien bachab – auch mit der Niederlassung der Firma Rohner in Buttikon. Das langgezogene Fabrikgebäude wurde folglich anderweitig genutzt. In den 1930er-Jahren nutzte etwa die Möbelfirma Knobel das Gebäude. In den 1940er-Jahren folgte eine Ledergerberei. Aus dieser Zeit stammt auch der umgangssprachliche Name der Liegenschaft: «Lederi». «Danach wurde das Gebäude nicht mehr industriell genutzt», sagt Ziltener. Zuletzt dienten die Räumlichkeiten als Lagerräume. Die Nebengebäude der Fabrik haben eine Zeit lang als Wohnraum gedient, später waren sie Treffpunkt für die Pfadi.
«Unglaubliches Tempo» «Dass so viele Gebäude mit Geschichte einfach abgerissen werden und aus dem Dorfbild verschwinden, schmerzt schon ein wenig», sagt Ziltener. Die «Lederi» sei ja nicht das einzige alte Bauwerk im Dorf, das dieses Schicksal trage. So verschwanden in den letzten Jahren die drei prägenden Gaststätten Schäfli, Rose und Rössli sowie die «Glasi» aus dem Dorfbild, die früher so manche Postkarte von Buttikon prägten. Und Ende der 60er-Jahre wurde der rechtsseitige Dorfkern mit der Magnuskapelle aus dem Jahre 1885/1886, und die angrenzenden Wohnhäuser dem Bau der neuen Josefskirche und dem Parkplatz geopfert.
Fast zeitgleich mit der «Lederi» verschwindet in Buttikon auch das ehemalige Restaurant Freihof, das 1898 erbaut wurde. Das Gebäude wurde kürzlich abgerissen – es entsteht ebenfalls neuer Wohnraum. «Das alte Dorf verschwindet in einem unglaublichen Tempo. Dies hinterlässt bei vielen Menschen ein mulmiges Gefühl», sagt Ziltener. Früher habe man die Dörfer an den Gebäuden erkannt, heute reihe sich Wohnblock an Wohnblock, sagt er. Doch der derzeitige Bauboom ha-be nicht nur optisch Auswirkungen für die Ortschaft, sondern bringe auch grosse gesellschaftliche Veränderungen mit sich. «Das Dorfleben ist ein völlig anderes», sagt er. Der Grund: Viele würden nur noch im Dorf wohnen, hätten aber keinen wirklichen Bezug mehr dazu. In der Folge würden die Vereine langsam aussterben, kaum jemand kenne sich noch. Es sei eine Entwicklung, die viele Dörfer betreffe. «Die Leute verlieren so die Identität und das Zusammengehörigkeitsgefühl », so Ziltener. «Ein altes Sprichwort sagt: ‹So wie man sich bettet, so liegt man›. So fordert der Wohlstand eben seinen Preis, den es für diese Entwicklung zu zahlen gilt», sagt er. Ob es sich zum Guten neigt, werde die Zukunft zeigen, sagt Ziltener mit einem leicht kritischen Unterton.
Buttikon verliert mit der «Lederi» ein weiteres historisches Gebäude. Die Fabrik beherbergte verschiedene Firmen und war massgeblich für den wirtschaftlichen Aufschwung des Dorfes verantwortlich.
«Daraus entstand sogar eine ganze Industrie.»
Richard Ziltener
Alt-Gemeindeschreiber Schübelbach und Vize-Präsident des Marchring
Zur Blütezeit beschäftigte die Fabrik 220 Personen und viele Heimarbeiter.