Ist die Jugi Richterswil die schönste der Schweiz?
Es ist ein Jahrhundert her, dass der Grundstein für Schweizer Jugendherbergen gelegt wurde. Zeit für einen Besuch in einer der angeblich schönsten des Landes.
Am vergangenen Sonntag feiert die Schweiz das 100-jährige Bestehen ihrer Jugendherbergen. Als Grundstein gilt der 28. April 1924, als eine Gruppe junger Menschen die Genossenschaft für Jugendherbergen Zürich gründete. Rund 50 Unterkünfte existieren heute schweizweit, drei davon im Kanton Zürich. Neben Wollishofen und Fällanden steht seit 32 Jahren auch eine in Richterswil. Glaubt man den diversen Reiseführern und Onlineportalen, ist diese ganz besonders. Die Herberge auf dem Richterswiler Horn direkt am See soll eine der schönsten von allen sein. Zeit, ihr einen Besuch abzustatten.
Eine Suite in der Herberge
Vor dem herrschaftlichen Gebäude mit den türkisen Fensterläden ist es ruhig an diesem Nachmittag. Im öffentlichen Café sitzen eine Hand voll Gäste, die dem leisen Rauschen der Wellen lauschen und auf die schneebedeckten Berge in der Ferne blicken. Im Eingang der Herberge stehen zwei vollgepackte Rucksäcke. Einer ihrer Besitzer rennt gerade verschwitzt die Treppe hinauf, während er seine Freude über die bevorstehende Dusche kundtut. Im Zimmer daneben diskutiert eine Gruppe Jugendlicher angeregt miteinander.
Das Innenleben der Herberge wirkt auf den ersten Blick wie in jeder anderen Jugendherberge auch. Eine Mischung zwischen Bescheidenheit und der Suche nach sozialem Austausch. Was also macht die Richterswiler Jugi so besonders? Zwei, die es wis-sen müssen, sind Tanja Müller und Daniel Marti. Sie führen die Herberge seit Sommer 2022 und wohnen seither auch in ihr. «Der direkte Seezugang, das historische Gebäude, der gegenüber gelegene Bahnhof, die Nähe zu Zürich und den Bergen sowie die regionale Küche», fassen sie die Vorteile ihrer Herberge zusammen.
Tanja Müller und Daniel Marti spazieren durch die oberen zwei Etagen, auf denen sich Zimmer an Zimmer reiht. 27 sind es insgesamt, die Platz für 80 Gäste bieten. Zwischen 44 und 80 Franken zahlt man hier pro Nacht inklusive Frühstück – je nach Saison und Zimmergrösse. Die Räume sind mit zwei bis sechs Betten ausgestattet. Massenschläge für ein Dutzend Personen finde man heute kaum mehr in Herbergen. Die Privatsphäre sei zu wichtig geworden. Die Gäste teilen hingegen Duschen und Toiletten. Die beiden kommen vor einem besonderen Zimmer zu stehen: der «Honeymoon-Suite». Hier finden frisch verheiratete Paare eine Bleibe. Die Betten stehen nebeneinander statt übereinander, Stuckaturen zieren die Zimmerdecke, und vor dem Fenster erstreckt sich der Zürichsee. Dutzende Paare geben sich jedes Jahr auf dem Hornareal das Jawort. «Wir erhalten zahlreiche Anfragen für Hochzeiten und haben schon Buchungen für 2025», sagt Tanja Müller. Tatsächlich ist die Herberge in Richterswil eine der wenigen, die auch als Hochzeitslocation fungieren.
Selbst 83-jährige «Jugendliche»
In die Jugendherberge strömen nicht nur Heiratswillige, sondern Menschen aller Art – und allen Alters. «Wir hat-ten erst gerade einen 83-jährigen Herrn aus Deutschland zu Gast», sagt Tanja Müller. Das führe zu unterhaltsamen Begegnungen. «Der Mann hat sich mit den Jugendlichen so gut verstanden, dass sie sogar schon Pläne für eine Wohngemeinschaft geschmiedet haben», erzählt sie. Typische Back-packer findet man in Richterswil eher selten, diese ziehe es in die Städte. «Viele unserer Gäste sind aus der Schweiz und besuchen jemanden in der Umgebung », erklärt Daniel Marti. Ausländische Touristen kämen auch wegen der Nähe zu Zürich und anderen Attraktionen. «Nach dem Schoggimuseum und dem Alpamare werden wir besonders oft gefragt.»
«Wir haben die Badehosen dabei»
Weil die Jugendherberge rollstuhlgängig ist, kommen jedes Jahr auch mehrere Gruppen von Menschen mit Behinderungen vorbei, was die beiden Gastgeber besonders freut. Generell reisen knapp die Hälfte der Gäste in Schulklassen und Gruppen an. Eine dieser Gruppen leitet gerade Nadine Aebischer aus Bern. Sie ist Mitglied des Swiss National Youth Council und diskutiert mit Jugendlichen aus ganz Europa vier Tage über politische Partizipation. «Wir kommen seit 2019 in die Jugendherberge Richterswil», sagt sie. Dies nicht nur wegen der «spektakulären Aussicht». Sondern auch, weil sie nahe am Flughafen liege und es genug grosse Sitzungszimmer gebe. Und natürlich hätten die meisten von ihnen auch die Badehosen dabei.
Daniel Marti und Tanja Müller sind die nächsten Tage vor allem mit den letzten Vorbereitungen für die Hauptsaison beschäftigt, die Mitte Mai beginnt.
Bleibt nur noch die Frage offen, ob nun die Jugi Richterswil tatsächlich die schönste Herberge des Landes ist. Von offizieller Seite, dem Verein Schweizer Jugendherbergen, heisst es diplomatisch: Die über 50 Jugendherbergen haben nur eines gemeinsam – dass sie sich alle unterscheiden.