Sihlsee-Staumauer lässt tief blicken
In der Sihlsee-Staumauer im Schlapprig gibt es zwar keinen Keller. Aber tief hinunter geht es trotzdem. Und kalt ist es auch.
Seit 86 Jahren steht beim Sihlsee in Einsiedeln eine Staumauer. Seit fast fünf Jahren ist Benjamin Schönbächler dort für die Sicherheit verantwortlich. Zusammen mit seinem Team hegt und pflegt er die Anlage. Als Talsperrenwärter macht unter anderem auch Kontrollgänge – tief im Innern der Staumauer. In den teilweise unheimlich anmutenden Gängen im Innern der Anlage spukt es laut Schönbächler aber nicht. (red) Seit 86 Jahren ruht die Staumauer des Sihlsees mehr oder weniger unveränderlich in sich. Das ist auch gut so, ist sie doch eine Schwergewichtsmauer, die sich lediglich mit ihrer Masse dem Wasserdruck entgegenstemmt. Und das ist nicht wenig, womit der Sihlsee drückt: 92 Millionen Kubikmeter fasst der nutzbare Inhalt des Stausees. Demgegenüber stehen 28 000 Kubikmeter Beton und Verkleidung der massiven Mauer. Und diese 28 000 Kubikmeter wollen umsorgt sein.
«Sicherheit über alles» Für Hege und Pflege und vor allem Kontrolle der Staumauer zuständig sind in erster Linie Benjamin Schönbächler und sein Team mit Paul «Pablo» Kälin und Urban Inglin. Schönbächler (Jahrgang 1990) ist gelernter Automechaniker und Instandhaltungsfachmann. Im September 2018 wurde er zum Talsperrenwärter ernannt, so die offizielle Bezeichnung der SBB (deren Angestellter er ist), worauf die nächste Berufsausbildung folgte: die Grundausbildung zum Talsperrenwärter.
Die Arbeit des Trios ist abwechslungsreich und beschränkt sich nicht nur auf die Staumauer. Doch von die-ser Arbeit soll heute die Rede sein. Und dazu fällt Schönbächler als ers-tes ein: «Sicherheit über alles.» Vereinfacht gesagt, kontrollieren er und seine Mannen in regelmässigen Abständen so ziemlich alles, was man registrieren kann: Druck, Auftrieb, Sickerwasser und Verschiebungen nach allen Richtungen; die Technik wird geprüft bis hin zum Stromausfall, wenn Notstromaggregate und im schlimmsten Fall gar Handbetrieb zum Zuge kommen. Über alles wird Buch geführt. «Die Mauer ist gebaut und steht», bilanziert Schönbächler. «Man muss nichts daran verändern.»
«Die Mauer spüren»
«Und sollte sich dennoch etwas verändern, merken das unsere Leute», ergänzt Sascha Schwaller nicht ohne Stolz. An diesem Tag fuhr er als Standortleiter Kraftwerk Etzelwerk extra von der Zentrale in Altendorf hinauf zur Mauer. Ein Gang, der nicht nur dem Austausch dient, sondern ihm auch gefällt. «Man munkelt», so Schwaller, «dass die schönsten Arbeitsplätze der SBB im Schlapprig sind!» Mindestens zweimal pro Woche ist einer der drei Männer in der Mauer. Einige Messungen sind automatisiert. «Doch gewisse Sachen lassen sich nicht an die Technik delegieren», weiss Schönbächler aus mittlerweile fünfjähriger Berufserfahrung. «Ich muss zum Beispiel wissen, wo es feucht sein darf und wo nicht.» Unbekannte Geräusche, neue Gerinsel, veränderter Geruch … «dafür müssen wir regelmässig vor Ort sein. Dieses Gefühl muss man aufbauen. Wir gehen in die Mauer, um sie zu spüren».
Zwei Gänge durch die Mauer
Zentral für die Arbeitserledigung sind die beiden Kontrollgänge, die sich der Mauerlänge nach von einem Taleinschnitt zum anderen ziehen. In diesen Gängen befinden sich unzählige Messgeräte, Markierungen und Siegel. Das Laufen ist kein Problem: Die Gänge sind genug hoch und genug breit. Die Luft ist gut und frisch, das elektrische Licht ausreichend, die Luftfeuchtigkeit nicht speziell wahrnehmbar. Aufpassen muss man lediglich an ein paar wenigen Stellen, wo es glitschig ist.
Aufgrund des Taleinschnitts im Schlapprig verengt sich die Mauer. Und zwar deutlich: Die Kronenlänge misst 127Meter. Der untere Kontrollgang, rund 33 Meter tiefer auf dem Niveau des Seegrunds, kommt noch auf 45 Meter. Dazwischen liegt der obere Kontrollgang mit seinen gut 70 Metern Länge. Die Gänge werden durch eine Wendeltreppe verbunden und durch mehrere Leiterschächte, in denen man sich aus Sicherheitsgründen angurten muss.
Jeder Meter wird abgelaufen
Der Höhenunterschied ist gut zu spüren. Beim Abstieg wird es kälter, beim Aufstieg entsprechend wärmer. Während es im oberen Gang im Schnitt 8 bis 12 Grad gibt, schwankt die Temperatur unten zwischen 7 bis 10 Grad.
Für den Kontrollgang wird jeder Meter in der Staumauer abgelaufen. Sollte einem Mitarbeiter einmal etwas passieren, ist er über eine Totmanneinrichtung, einen Bewegungslosmelder, mit dem Betriebsgebäude verbunden. Man weiss ja nie. Verlaufen kann man sich zwar schlecht, doch bis man einen Vermissten gefunden hat, könnte das schon länger dauern. Auch hier: Vorsicht geht vor.
Eine kleine Überraschung
Wer auf Gespenstergeschichten oder überraschende Geheimnisse hofft, muss Schönbächler enttäuschen. Weder gibt es versteckte Gänge noch verschlossene Kammern, geschweige denn irgendwelche mysteriösen Geräusche. «Nicht einmal Meiri geistert hier unten herum», scherzt der Talsperrenwärter. Doch präsent ist der langjährige, viel zu früh verstorbene Stauwärter Meiri Fuchs trotzdem. Zum Beispiel mit einer Foto in der kleinen Kantine.
Eine Überraschung halten die Gänge aber doch bereit: In einer nicht mehr benötigten Luke entdeckt man unvermittelt eine Jesusstatue. «Die hat Pablo hingestellt», sagt Schönbächler. «Eigentlich sollte es die heilige Barbara sein.» Tief unten ist Segen von oben willkommen. Egal von wem.
Als der kleine Trupp über das Windenhaus wieder ins Freie tritt, reg-net es. «Bei uns gibt es nur schönes und gutes Wetter», schmunzelt Benjamin Schönbächler mit Blick auf den Sihlsee. «Wenn es regnet, ist das Wetter gut.»