Für Yo-Yo Ma streben die Musik und das Leben nach Gleichgewicht
Der international renommierte Cellist Yo-Yo Ma tritt an den Sommets Musicaux in Gstaad auf. Zuvor gibt er drei Konzerte in der Westschweiz. Wie er Musik in seinem Denken verankert, darüber spricht er mit der Nachrichtenagentur Keystone-SDA.
Yo-Yo Ma wird Schumanns Cello-Konzert spielen, zusammen mit dem Orchestre de Chambre de Lausanne (OCL), das von Renaud Capuçon dirigiert wird. Der zweite Teil des Abends ist Beethovens Dritter Symphonie, der sogenannten Eroica, gewidmet.
Rationalität und Traumwelt
Obwohl der Solo-Cellist nur im ersten Teil des Konzertabends mit auf der Bühne sitzt, bezieht er im Gespräch beide Teile aufeinander. Während Beethovens 3. Symphonie in Es-Dur (Opus 55) für die Aufklärung steht, ist Schumanns Cello-Konzert in a-Moll (Opus 129) ein Werk der Romantik. Beethovens Eroica ist in den Jahren 1802 bis 1803 entstanden. Schumann hat sein Cello-Konzert innerhalb von zwei Wochen im Herbst 1850 geschrieben.
«Oft wird gesagt, dass die Romantik eine Reaktion auf die Aufklärung gewesen ist», sagt Yo-Yo Ma. Der zunehmend als kalt empfundenen Rationalität der Aufklärung haben die Vertreterinnen und Vertreter der Romantik das Unterbewusste und damit eine Traumwelt entgegengesetzt. Aber dieser vermeintliche Gegensatz sei nur ein Aspekt, so Ma. Letztlich gehe es immer um ein Gleichgewicht. Wenn irgendwo Asymmetrie herrsche, strebten wir das Gleichgewicht an.
Dieses Streben nach Gleichgewicht, ein Begriff, den Ma im Gespräch immer wieder verwendet, sei in dem Konzertabend angelegt – und auch in Schumanns Cello-Konzert. «Was erzählt uns Schumann hier?», fragt Ma rhetorisch, um gleich selbst die Erklärung zu liefern.
Schuhmann sei mit diesem Konzert in einer instabilen Traumwelt. Ganz zu Beginn setzen die Bläser eine melancholische Stimmung; darauf folgt das Hauptthema fürs Cello. Der ganze erste Satz «kommt einer Suche gleich», so Ma. Der zweite, langsame Satz sei dann wie ein unterbewusster Traum, gefolgt von einem hochvirtuosen dritten Satz, der an einen überschäumenden Tanz, eine Art Fest erinnere. Das rund halbstündige Cello-Konzert endet mit einem Wechsel von Moll nach Dur – und der Traum sei vorbei. «Mit dem Dur endet Schumanns Cello-Konzert in der Rationalität der bewussten Welt», sagt Ma. Das Gleichgewicht von Unterbewusstsein und bewusster Welt sei wieder hergestellt.
Kreativ und destruktiv
Demnach ist für Ma Schumanns Cello-Konzert ein Beispiel dafür, dass «Musik wie eine Linse ist, durch die wir beobachten und letztlich verstehen können, wer wir sind». Geboren wurde Ma als Sohn chinesischer Eltern 1955 in Paris. «Das war nur zehn Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs», sagt Ma. Die Gräuel des Krieges seien noch sehr präsent gewesen. «Seit meinen Kindertagen bis heute versuche ich zu verstehen, wie Menschen unwahrscheinlich kreativ und erschreckend destruktiv sein können – eine grundlegende Asymmetrie.» Auch auf dieses Dilemma menschlicher Existenz antwortet er mit dem Streben nach Gleichgewicht. «Das ist das Wunder unserer Existenz, das uns vorwärts treibt», sagt Ma.
Auf seiner Homepage stellt er sich als Fürsprecher vor, «für eine Zukunft, die von Menschlichkeit, Vertrauen und Verständnis geprägt ist». Er ist Friedensbotschafter der Vereinten Nationen und der erste Künstler, der in das Kuratorium des Weltwirtschaftsforums (WEF) berufen wurde. Darüber hinaus engagiert er sich als Vorstandsmitglied in einer in den USA ansässigen gemeinnützigen Organisation, die sich mit indigenen Völkern und Bewegungen weltweit solidarisch zeigt.
Sein musikalisches Repertoire ist enorm breit. Es reicht vom westlichen klassischen Kanon, vom Barock bis zur zeitgenössischen Musik, zu Projekten beispielsweise mit dem Weltmusiker Bobby McFerrin und weiteren, die nur schwer zu kategorisieren sind. Er hat mehr als 120 Alben veröffentlicht und 19 Grammys gewonnen.
Mikrokosms und die Welt im Ganzen
Mit Renaud Capuçon, der unter anderem künstlerischer Direktor des OCL und ebenfalls künstlerischer Direktor der Sommets Musicaux de Gstaad ist, verbindet Yo-Yo Ma seit zehn Jahren eine «professionelle Freundschaft», wie er sagt. Mit Capuçon hat er seither bereits verschiedentlich zusammengearbeitet. Mit dem OCL tritt Ma zum ersten Mal auf, wie er erzählt.
Auf das Publikum in der Schweiz freue er sich. «Ich mag die direkte Demokratie und die Mehrsprachigkeit der Schweiz», sagt er. Das sei im Mikrokosmos das, was die Welt im Ganzen sei. Er sei sich bewusst, dass das eine idealistische Sicht auf die Schweiz sei. Aber: «Es ist zumindest ein Streben danach.»