Neue Bemühungen um Gaza-Waffenruhe nach Tod des Hamas-Chefs
Der Tod des Hamas-Chefs Jihia al-Sinwar hat Hoffnungen auf eine mögliche Entschärfung des Konflikts im Nahen Osten geweckt.
US-Präsident Joe Biden nannte den Tod Sinwars bei seinem Besuch in Berlin als «Moment der Gerechtigkeit», der «einen Weg zum Frieden» und zu einer besseren Zukunft im Gazastreifen eröffnen könnte. Auch Bundeskanzler Olaf Scholz sagte, mit Sinwars Tod eröffne «sich jetzt hoffentlich die konkrete Aussicht auf einen Waffenstillstand in Gaza, auf ein Abkommen zur Freilassung der Geiseln der Hamas». Zunächst aber gingen die Kämpfe unvermindert weiter.
Der stellvertretende Chef des Hamas-Politbüros, Chalil al-Haja, bestätigte am Freitag den Tod Sinwars. Der lang gesuchte 61-jährige Islamist gilt als Drahtziehers des Massakers in Israel vom 7. Oktober 2023 mit 1.200 Toten und 250 Verschleppten. «An seinen Händen klebte das Blut von Amerikanern, Israelis, Palästinensern, Deutschen und so vielen anderen», sagte Biden. Der US-Präsident hatte noch in der Nacht zum Freitag angekündigt, er werde US-Aussenminister Antony Blinken für Gespräche nach Israel schicken. Es sei nun an der Zeit, dass sich etwas bewege in Richtung einer Lösung des Konflikts.
Hamas-Vize: Geiselfreilassung nur bei Rückzug der Israelis
Von Al-Haja hiess es weiter, dass die Bedingungen der Hamas für eine Waffenruhe und ein Geisel-Abkommen unverändert blieben: Israelische Geiseln würden nur freigelassen, wenn die israelische Armee aus dem Gazastreifen abziehe und palästinensische Häftlinge von Israel freigelassen würden.
Die israelische Regierung lehnt einen Abzug der Armee zum jetzigen Zeitpunkt ab. Einige Angehörige der noch 101 Geiseln in dem Küstenstreifen äusserten sich besorgt, dass die Hamas sich an den Verschleppten für den Tod Sinwars rächen könnte.
Video der Armee soll Sinwar kurz vor seinem Tod zeigen
Das Militär veröffentliche Aufnahmen einer Drohne, die einen vermummten und von Staub bedeckten Mann – angeblich Sinwar – zeigen, der noch lebend in einem ausgebombten Gebäude auf einem Sessel sitzt. Als sich die Drohne nähert, wirft er mit einem Stock nach dem ferngesteuerten Fluggerät. An dieser Stelle bricht das Video ab. Israelische Medien veröffentlichten später Fotos von der zwischen Trümmern liegenden mutmasslichen Leiche Sinwars mit schwersten Kopfverletzungen.
Israels Regierungschef Benjamin Netanjahu bezeichnete die Tötung des Hamas-Chefs als Meilenstein. «Dies ist der Beginn des Endes der Hamas», sagte Netanjahu in einer Videobotschaft an die palästinensische Bevölkerung im Gazastreifen. Die Menschen in dem abgeriegelten und vom Krieg verwüsteten Küstengebiet sollten sich endlich von der seit Jahren währenden «Unterdrückungsherrschaft» der Hamas befreien. Das hatte er so ähnlich auch schon den Libanesen geraten, die sich gegen die Hisbollah erheben sollten.
Palästinenser: Israel ist ein verbrecherischer Staat
Für viele Palästinenser sind jedoch die Israelis die Unterdrücker und manche sehen in Sinwar einen Helden des Widerstands. «Obwohl ich nicht mit ihm (Sinwar) übereinstimme und ihn manchmal hasse, weil er für den Krieg im Gazastreifen verantwortlich ist, bleibt er Palästinenser (…) und Israel ein verbrecherischer Staat», sagte ein Mann in Gaza-Stadt am Telefon einem dpa-Reporter.
Ein anderer Mann in Deir al-Balah im Zentrum des Gazastreifens zeigte sich erfreut über Sinwars Tod, weil dieser den Gazastreifen ins Unglück gestürzt habe. «Ich hoffe nun, dass das israelische Volk auch Netanjahu bestraft für seine Verbrechen – nicht nur gegen die Palästinenser, sondern auch gegen die Israelis und dafür, dass er die Idee des Friedens in der Region zerstört hat», sagte der Palästinenser.
Biden: Sinwar war ein Hindernis für eine Lösung
Biden betonte, nun könne die Chance auf einen «Tag danach» im Gazastreifen ohne die Islamisten an der Macht ergriffen werden. Für eine politische Lösung, die sowohl Israelis als auch Palästinensern eine bessere Zukunft biete, sei Sinwar ein Hindernis gewesen.
Biden setzt sich wie auch Deutschland und andere westliche Verbündete Israels schon seit langem für die Zweistaatenlösung ein, also einen Palästinenserstaat im Gazastreifen und dem Westjordanland mit Ost-Jerusalem als Hauptstadt, der in Frieden neben Israel existiert.
Netanjahu und auch viele Israelis lehnen das ab. Die Sorgen sind gross, dass Extremisten wie Sinwar in so einem Staat die Macht übernehmen könnten. Zudem würde das nach Auffassung vieler Israelis wie eine inakzeptable Belohnung für das Massaker vom vergangenen Jahr wirken. Die Hamas spricht Israel ebenso wie die Hisbollah und der Iran das Existenzrecht ab.
Mit wem verhandeln?
Unklar war auch, mit wem eigentlich bei der Hamas noch Gespräche über einen möglichen Waffenstillstand und eine Freigabe der Geiseln geführt werden könnten. Über mögliche Nachfolger Sinwars gab es zunächst nur Spekulationen. Weit oben auf der Liste steht Chaled Maschaal, der die Hamas schon einmal von 1996 bis 2017 leitete, und in Doha residiert.
Aber auch Maschaal steht kaum für Kompromissbereitschaft. Der Mann, der 1997 einen Mordanschlag des israelischen Geheimdienstes Mossad nur knapp überlebte, rief erst im August zu einer «Rückkehr der Selbstmordoperationen» auf. Die aktuelle Situation verlange einen «offenen Konflikt», sagte er und rief die Anhänger der Hamas auf, «sich am Widerstand gegen das zionistische Gebilde (Israel) zu beteiligen.»
Auch Sinwars jüngerer Bruder Mohammed wird als möglicher Nachfolger erwähnt. Er war einer seiner engsten Vertrauten und ebenso an der Planung des Oktober-Massakers beteiligt.
Armee: 150 «Terrorziele» angegriffen
Die Kämpfe mit der Hamas im Gazastreifen und mit der Hisbollah im Libanon wurden unterdessen unvermindert fortgesetzt. Im Laufe des vergangenen Tages habe die Luftwaffe etwa 150 «Terrorziele» im Gazastreifen und im Libanon angegriffen, hiess es am Freitagmorgen. Im Norden Israels heulten wieder in mehreren Orten die Sirenen. Nach Angaben des israelischen Militärs feuerte die mit der Hamas verbündete Schiitenmiliz Hisbollah mindestens 15 Raketen vom Libanon auf Israel ab.
Neue Hoffnung für Geiseln?
Angehörige der Geisel forderten, die Situation nach dem Tode Sinwars zu nutzen und sich deutlich stärker um die Freilassung der Verschleppten zu bemühen. «Wir haben die Rechnung mit dem Massenmörder Sinwar beglichen, aber es wird keinen totalen Sieg geben, wenn wir ihre Leben nicht retten und sie nicht nach Hause holen», zitierte die Zeitung «Jerusalem Post» eine Sprecherin der Angehörigen.